Mit dem Erwerb unserer Muttersprache lernen wir das Fragenstellen von klein auf. Jedoch bekommt das Kleinkind nicht nur viele erklärende Antworten auf seine neugierigen Fragen. Es erfährt schon früh, dass auch ihm Fragen gestellt werden, und dass diese nicht allein auf der Neugier und dem Interesse des Fragenstellenden beruhen, sondern auch den Wissensstand des Kindes hinterfragen und damit kontrollieren wollen.
Von Anfang an werden Fragen also als vielschichtiges Mittel der Kommunikation erlebt:
Wir können damit Wissen generieren, Verbindungen zwischen Gesprächspartnern auf Augenhöhe herstellen oder auch Distanz schaffen und Statusunterschiede festschreiben. Durch die Art der Fragestellung können wir gemeinsam unser Wissen erweitern oder mit einander in Konkurrenz treten, beängstigende Prüfungssituationen oder aber eine Kultur der psychologischen Sicherheit schaffen.
„Das ist eine gute Frage“, sagen wir im Gespräch zu jemandem, der uns gerade auf einen neuen Gedanken bringt. Merkmal einer guten Frage ist gerade nicht, ein guter Ratschlag oder eine gute Idee zu sein. Letztere wissen wir durchaus auch zu schätzen, doch im Gegensatz zum Ratschlag, hat die gute Frage beim Befragten einen Gedankengang angestoßen, der seinen eigenen Wissens- und Erfahrungsschatz auf neue Weise beleuchtet und auch im Detail neu kombiniert. Dies geschieht in der Regel durch offene Fragen, auf die man nicht einfach mit „ja“ oder „nein“ antworten kann. Die offene Frage macht eine Antwort auf der Basis eines neuen Gedankengangs erst möglich. Neu bedeutet in diesem Zusammenhang nicht unbedingt gleich bahnbrechend. Jedoch wird vielleicht das ein oder andere Detail aus einer neuen Perspektive betrachtet oder stellt sich als ein Missing Link heraus, wodurch eine neue (Teil-)Lösung eines Problems in Sicht kommen mag.
Die Offenheit einer Frage bezieht sich nicht nur auf ihren Aufbau, sondern auch und gerade auf die Art und Weise, mit der die Fragenstellende dem Antwortenden aktiv zuhört und gegebenenfalls durch weitere offene, vorurteilsfreie oder auch prozessorientierte Fragen zur Vertiefung des Themas einlädt.
Solche Fragen, die auf unsere eigene Expertise und Sichtweise abzielen, werden uns jedoch eher selten gestellt, außer wir befinden uns gerade in einem Interview oder einfach in der Rolle dessen, der die Ansagen macht. Ob in beruflichen oder privaten Kontexten, wir werden es häufiger erleben, dass sich in einer Gruppe von Menschen alle gegenseitig die Welt erklären, als dass reihum neugierig und vorurteilsfrei die Perspektiven der einzelnen erfragt und deren Antworten unvoreingenommen und aktiv zugehört wird.
Der Organisationspsychologe und Cambridge Professor Edgar H. Schein führt das auf eine eher aufgaben- als beziehungsorientierte Kultur zurück:
„Ich nenne dies eine »Kultur des Erzählens« und argumentiere, dass wir nicht nur das Erzählen höher bewerten als die Frage, sondern auch das Tun höher bewerten als das In-Beziehung-Treten…“
So liegt die hohe Bedeutung des vorurteilslosen Fragens in professionellen Kontexten für Schein in dem umwälzenden Kulturwandel begründet, der sich seit geraumer Zeit von einer, als objektiv einschätzbar und kontrollierbar wahrgenommenen Realität hin zu einer, auch als „vuka“ (volatil, unsicher, komplex und ambivalent) bezeichneten Welt vollzieht:
„Die Welt wird aus technologischer Sicht komplexer, wechselseitig abhängiger und kulturell betrachtet vielschichtiger, was den Aufbau von Beziehungen zunehmend notwendiger macht, um Aufgaben zu erledigen – und gleichzeitig wird dieser Aufbau schwieriger. Beziehungen sind der Schlüssel zu guter Kommunikation; gute Kommunikation ist der Schlüssel zu einer erfolgreichen Erledigung von Aufgaben; und Humble Inquiry, die auf der Demut im Hier-und-Jetzt basiert, ist der Schlüssel zu guten Beziehungen.“
Ebenso wie für Edgar H. Schein ist auch für Amy C. Edmondson, Novartis-Professorin für Führung an der Harvard Business School, die Beziehungsgestaltung durch offene und lösungsorientierte Fragen eine der wesentlichen Grundlagen für psychologische Sicherheit in Organisationen.
„Management des Nicht-Wissens“ nennt Edmondson die Haltung, die lösungsorientierten Fragen zugrunde liegt. Denn wer eine offene Frage stellt und sich Zeit nimmt, in Ruhe zuzuhören, vermittelt gleichzeitig auch: „Ich weiß es nicht, sag du es mir.“ Erst wenn wir den Mut haben zuzugeben, dass wir etwas nicht wissen, uns Informationen fehlen und wir die Expertise in dem Moment demjenigen zuweisen, dem wir eine offene Frage stellen, ist unser Zuhören wirklich von Neugier und uneingeschränkter Aufmerksamkeit geprägt. Durch diese Haltung stellen wir eine Beziehung zu unserer Gesprächspartnerin her, denn wir zeigen auch: „Ich brauche dein Wissen und deine Erfahrung, also brauche ich dich.“
Den vollständigen Artikel, mit vielen praktischen Beispielen, können Sie sich auf der awisu-Seite als PFD herunterladen.